Kindlicher Schmerz prägt Handlungsvermögen – Beratung verändert Blickwinkel
„Eigentlich habe ich eine gute Kindheit … oder soll ich lieber sagen, ich bekomme regelmäßige Mahlzeiten, zwischendurch auch Süßes so viel ich will, habe ein eigenes Zimmer und einen Spielplatz im Garten, darf nach der Schule meine Freizeit alleine gestalten, bekomme zum Geburtstag und Weihnachten alle Geschenke meiner Wunschliste, sogar mein Wunsch-Haustier, lerne fast jedes Jahr in den Sommerferien einen Teil der Welt kennen und brauche auch sonst nur zu sagen, was ich an Klamotten oder anderen Dingen gerne hätte. Sofort wird daraufhin für mich eingekauft oder erledigt. Auch mein Taschengeld ist großzügig und ich muss selten sparen. Es wird gemacht und getan, ich solle mich schließlich nicht beklagen…! Doch trotz allem geht es mir nicht wirklich gut, denn meine Eltern streiten immer. Sie schreien sich mit schlimmen Worten an, knallen die Türen oder Sachen durch die Gegend oder schlagen sich sogar. Das tut mir so weh. Ich habe Angst um Mama, ich habe Angst um Papa. Wie kann ich Mama helfen? Wie kann ich Papa helfen? Was soll ich bloß tun damit sie sich vertragen? Was habe ich falsch gemacht? Ich bin so traurig, aber das sage ich lieber nicht, sonst geht es Mama und Papa vielleicht noch schlechter. Sie haben doch schon genug Sorgen und Kummer, wohl auch wegen mir, jedenfalls höre ich oft meinen Namen wenn sie streiten. Ich schaff das schon irgendwie alleine. Ich mach mich einfach unsichtbar, dann falle ich Mama und Papa nicht auch noch zur Last. Und ich erzähle es niemandem, sonst komme ich vielleicht ins Heim. Ich muss stark sein, so tun als wenn nichts ist. Mama und Papa machen ja auch einfach weiter, so als wenn nichts war. Manchmal mache ich die Musik in meinem Zimmer ganz laut an, dann höre ich die bösen Beschimpfungen der beiden nicht mehr. Ich versuche mich abzulenken, mich zu beschäftigen – aber – meistens sitze ich nur da und weine. Ganz leise. Niemand soll es hören, keiner soll es wissen. Ich schäme mich. Ich habe Angst. Bestimmt bin ich Schuld an allem. Vielleicht hört es ja irgendwann auf … ich wünsche es mir so sehr. Mehr als alles andere.“
Erlebnisse, die zu seelischen Verletzungen des Kindes führen können. Erinnerungen und Bilder, die zeitlebens begleiten können.
Kinder gehen in Trance wenn Eltern streiten.
Eltern lieben ihr Kind, Kinder lieben ihre Eltern. Und doch sind solche oder ähnlich belastende, über Jahre stattfindende Szenarien, keine Seltenheit. Ohne es zu wissen, ohne Absicht der Eltern noch der Kinder passieren Situationen, die nachhaltige Folgen haben können. Getreu dem Wortlaut: „die Zelle vergisst nichts“, welches doch eher auf körperlicher Ebene einzusortieren ist, gilt es ebenso für die Psyche. So manches Erlebtes wird „in den Keller“ verbannt, aus psychologischer Sicht im Unbewussten abgespeichert.
Zu dritt und doch alleine
Jedes Kind lebt aus und mit seiner sozialen Interaktion, in seinem individuellem Empfinden und Verarbeiten seiner Erlebnisse. So kommt es vor, dass innerhalb einer Familie mit mehreren Kindern und somit gleichen Lebensumständen, unterschiedliche Thematiken während des Heranwachsens entstehen. Mangelndes Selbstwertgefühl, latente Aggressionen, Unsicherheit, Angstzustände oder andere psychische Störungen können nachhaltig folgen. Fehlt von Seiten des Elternhauses Sicherheit ist Vertrauen in Frage gestellt. Für den Moment des Erlebens, wenn es Mama oder Papa schlecht geht, fühlt jedes Kind durch Liebe und Verbundenheit zu seinen Eltern, mit ihnen. Ob es sich im Einzelfall um ein einmaliges Geschehen oder um eine dauerhafte familiäre Krisensituation handelt, ist ebenfalls ursächlich relevant. Ist das Kind mit seinem seelischen Schmerz auf sich alleine gestellt, benutzt es je nach seiner persönlichen Widerstandsfähigkeit unbewusst eigene innere Mechanismen, die ein Bewältigen seines Schmerzes möglich machen. Diese werden als Mittel zum Zweck zu Wegweisern seines Lebens. Die Bandbreite der folgenden Symptomatik ist groß und bringt Fragen wie: „Warum gerate ich immer wieder in diese oder jene Lebensumstände?“ oder „Was ist mit mir los, eigentlich muss es mir doch gut gehen?“ mit sich. Jahre der eingeschränkten Lebensfreude, Zeiten der Suche und des Zweifelns, vage lässt sich erahnen, dass es bei Streitereien und Energieräuberei weder einen Sieger noch Verlierer gibt. In Wahrheit gibt es immer nur drei Sieger oder drei Verlierer: Mama, Papa und! Kind.
Denken Sie doch bitte jetzt einmal an das Läuten einer Kirchenglocke – können Sie sie hören? Welche Emotionen nehmen Sie bei sich wahr? Geht es Ihrem Sitznachbarn ebenso? Sicherlich stellen Sie Unterschiedlichkeiten fest und darüber hinaus, dass es kein richtig oder falsch, sondern nur dieses „anders“ gibt. Eines aber haben alle: Erinnerungen. Jede Mutter, jeder Vater, jede Tochter, jeder Sohn – jeder hat (s)eine aus der sie/er heute denkt, fühlt und handelt. Und wer sie mit jemandem teilt ist nicht mehr alleine. Sei es das Elternpaar, das sich ihrem mitfühlenden Kind liebevoll zuwendet und es dadurch (be)schützt oder seien es die Elternteile, die sich in zielführende beratende Gespräche begeben. Zwar können wir nichts aus unserem Leben löschen, jedoch im offenen Umgang mit dem Erlebten den Blickwinkel darauf verändern. Akzeptieren wir die Wahrheit und erkennen an was ist, können neue Möglichkeiten entstehen.