Mitten im „Bilderbuch-Sommer“ voller Licht, gibt es sie auch – die Traurigkeit. Und während ich beginne diesen Artikel zu schreiben, erscheint nach einem heftigen Gewitter ein wunderschöner kräftiger Regenbogen am Himmel. Die Sonne kommt in ihrer ganzen Kraft zurück. „Warum bin ich traurig?“
Claudia S., eine 46jährige sympathische Frau. Attraktiv, sportliche Figur, die sie über ihre modische Kleidung unterstreicht, gepflegte Haut und Haare, ein zartes Gesicht. Sie schaut mich mit ihren großen dunkelbraunen Augen an. Mit ihrer Körpersprache, hochgezogene Augenbrauen und Schultern, bringt sie zwar ihr Nicht-Verstehen zum Ausdruck, jedoch ist ihre Gemütsverfassung nicht lesbar. Ihr Rot geschminkter Mund öffnet sich und mit einer klaren Stimme stellt sie mir ihre Frage, die sie sich selber schon öfter in ihrem Leben gestellt hat, doch bisher darauf keine Antwort fand: „Warum bin ich traurig?“
Als Pädagogin sei sie in der glücklichen Lage, immer in den großen Ferien gemeinsam mit ihrer Familie einen längeren Urlaub zu machen. Eines von mehreren familiären Ritualen, auf das alle Wertlegen und es einhalten. Es sei für sie und ihren Ehemann, der als Beamter im Öffentlichen Dienst tätig ist, wie ein zweites Weihnachtsfest im Jahr, wenn sie mit ihren beiden studierenden Kindern Zeit genießen können. Ob Ausflüge, Einkaufen und Kochen, gute Gespräche beim Essen oder Motorradfahren. Tochter und Sohn teilen sich während des Studiums die geräumige Einliegerwohnung im Elternhaus. Finanziell gehe es ihnen gut. Das eigene Haus ist bezahlt, neben den laufenden Kosten können Anschaffungen und Freizeitaktivitäten bedient werden. Die Altersversorgung stehe auf stabilen Säulen. Eigentlich, so räumt Claudia S. ein, gebe es keinerlei Grund, doch wieder taucht mit einem großen Aber ihre Frage auf: „Warum bin ich traurig? Es kann doch nicht sein. Was ist denn mit mir los?“
Warum ist Claudia S. traurig? Schauen wir genauer hin …
Per se ist Traurigkeit keine Diagnose sondern ein Gemütszustand, hierzu später mehr.
Ich bitte Frau S., mir ihre Traurigkeit zu beschreiben. Wie tief (intensiv) ist sie? Empfindet sie in ihrer Traurigkeit Verzweiflung oder Ausweglosigkeit? Hat ihr Leben für sie noch einen Sinn? Wenn ja, welchen? Gibt es für sie eine Perspektive? In ihren Antworten liegt ganz sicher eines – Zukunft. Als ich anfange mit Claudia S. über ihre Leidenschaft für klassische Musik zu sprechen nehme ich Sentimentalität wahr. Neben verschiedenen Konzerten, die sie demnächst besuchen möchte, verrät sie mir schwärmerisch, dass sie sich ein Saxophon kaufen möchte, hätte allerdings noch nicht das Richtige gefunden. Wir sprechen über ihre Träume. Ein Thema, welches oftmals beim Frühstück angesprochen wird, denn Claudia träumt recht intensiv und da fragt ihr Mann schon mal nach, wenn er seine Frau aus ihrem tiefen Schlaf wecken muss. Der Langschläfer der Familie ist ganz sicher sie. Zu Beginn ihrer Partnerschaft war es ähnlich wie heute. Ihr Mann begrüßte sie am Morgen mit frischem Kaffeeduft. In der Zeit seit der Geburt ihres ersten Kindes bis zum Eintritt ihrer Wechseljahre im vergangenen Winter hatten ihre Hormone jeweils zu einer Veränderung (Umstellung) ihres Schlaf-Wach-Rhythmus beigetragen. Frau S. beschreibt diese, für sie eher als positiv empfundene Veränderung ihres Schlafbedürfnisses, mit einer gewissen Leichtigkeit in der Sache, die sie nie thematisiert hat. Überhaupt sei sie eher diejenige, die mit ihrem Optimismus Antrieb in den Alltag hineinbringe. Ideen oder Kreativität sind definitiv bei ihr zu finden. Im Verlauf unseres Gespräches wird ihre Stimme weicher und ruhiger. Auch in ihrer wiederholt eingefügten Frage: „… aber – warum bin ich traurig?“.
In dem soweit beschriebenen Fallbeispiel von Claudia S. bekommen wir einen Einblick in ein harmonisches und sinnerfülltes Leben. In der Beschreibung ihrer Kindheit liegen Geborgenheit, Nähe und Liebe mit Abstand vorn. Es gibt in ihrer Vita weder tiefe seelische Verletzungen, traumatische Erlebnisse, noch körperliche Schädigungen. Keine genetischen (erbliche) Auffälligkeiten, keine neurologischen bzw. andere hirnorganischen Ursachen. Ihre Symptomatik passt nicht in das depressive Erscheinungsbild, in Folge dessen fern ab vom Typus Melancholiker. Ich suche weiter und stelle fest, dass auch Medikamente, Stimulanzien oder Drogen, die durchaus auch als sogenannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) für das Empfinden von Traurigkeit verantwortlich sein könnten, in unserem Fallbeispiel nicht vorkommen. Wie bereits kurz erwähnt, ist
Traurigkeit per se keine Diagnose sondern ein Gemütszustand.
Allenfalls könnte sich die Traurigkeit jedoch als Wegweiser zeigen, der zu einer Diagnose führt, da es in der Symptomatik neben anderen zu dieser zählt. Beispielsweise könnte dieses eine extrem nachhaltige, langanhaltende Traurigkeit sein, ursächlich psychisch oder organisch begründet, dann pathologisch ist und einer therapeutischen Maßnahme bedarf. An dieser Stelle gehe ich nicht näher auf die pathologische Form ein, sondern wende mich wieder dem Fall, wie in unserem abgeklärten Beispiel, eines Gesunden zu. Denn, hier geht es nicht um kranksein, sondern um ein subjektives Empfinden, es fühlt sich in der Beschreibung als „gekränkt“ an, dass in seiner Dauer und Intensität variieren kann. Jeder Einzelne hat eigene Erlebnisse, Erkenntnisse, Werte oder Themen auf ihrem/seinem bisherigen Lebensweg gesammelt und abgespeichert, die individuell zu ihrer/seiner Persönlichkeit und zum ganz eigenen Lebenssinn gehören. Was macht mich aus? Was treibt mich an? Wann empfinde ich Freude? Was stimmt mich traurig? Usw. Nun fließen ständig Außenreize auf uns ein und wie durch einen Filter, aktivieren einige davon in uns ein bestimmtes Gefühl und darüber eine Stimmung, die anderen ziehen spurlos vorbei, (be)wirken nicht. Bei Kindern kann man oft beobachten, wie lebensfroh und positiv sie zunächst an Situationen oder Begegnungen herangehen. Sie „wollen“ (nicht über den Verstand sondern aus sich selber heraus kommend) fröhlich und natürlich sein, zeigen sich meist laut in Lachen oder Tränen. Doch – welche Erinnerung bringen sie jeweils damit in Verbindung? Wie wurde in ihrer eigenen Familie mit Traurigkeit umgegangen? Traurigkeit kann z. B. Aufmerksamkeit oder auch Ablehnung schaffen. Oder Traurigkeit kann als etwas Negatives, etwas, was nicht sein soll, abtrainiert worden sein. Ich spreche hier von einer eher hergestellten (nicht authentischen) Lebensfreude. Welches Modell auch immer vorgelebt und dadurch weitergegeben ist, der Weg führt so manches Mal aus den verschiedensten Gründen dahin, dass Traurigkeit „weggelächelt“ ist/wird. ABER – sie ist da! Sie gehört auch(!) zu einem. Die intelligente Natur hat Dualität vorgesehen. Was bedeutet das? Denken wir an Tag und Nacht, an alles, was zum Zwecke der Regulierung Gegensätzlichkeit benötigt. Wir alle brauchen Spannung aber auch Entspannung. Wir sind wach und müde. Laut und leise. Wir haben in diesem trockenen und heißen Sommer hautnah und deutlich zu spüren bekommen, wie notwendig der Regen ist. Alles Leben ist Dualität, Dualität ist Leben.
Haben Sie sich schon einmal gefragt: „Warum bin ich glücklich?“
oder machen Sie sich Sorgen, wenn es Ihnen gut geht? Ich könnte Sie auch anders fragen: „Was tun Sie?“ Suchen Sie z. B. im Internet nach einer Diagnose wenn Sie Freude empfinden? Nun sind Sie seit drei Tagen in einer guten Stimmung, schmunzeln und genießen Ihre Zeit. Lassen Sie diesen Gemütszustand raus, sichtbar werden oder versuchen Sie dagegen an zu gehen? Schließlich stellen Sie dann auch noch fest, dass Sie in diesem Monat schon eine weitere Phase dieses Gemütszustands hatten. „Darf“ es Ihnen in kurzen Abständen so gehen? Schon wieder fröhlich…oh je, …?“. Wie sieht es bei Ihnen auf der anderen Seite aus? Wann haben Sie sich das letzte Mal Ihrer Traurigkeit oder Ihrem Seelenschmerz wirklich zugewandt und vielleicht mal zwei Tage im Stück geweint um sich anschließend wie entladen und befreit zu fühlen? In unserer heutigen Zeit gehören Begriffe wie Druck und Stress zum täglichen Vokabular. Alle reden drüber, beschweren sich über… und machen weiter. Selbstredend gibt es nicht immer die sofortige Lösung des Anliegens, doch es gibt definitiv ein eigenes Empfinden in Situationen/Lebensphasen, -umstellung und das heißt es anzunehmen. Gefühle sind existent und gehören dazu. Je nachdem, ob ich mich gut oder nicht gut fühle, resultiert meine Stimmung. Oft kommen Einflüsse von außen, die, neben den gravierenden sozialen Veränderungen und Werte in der heutigen Zeit da sind. Doch es macht manchmal in der Summe dessen mehr mit uns, als wir vermeintlich beachten. Passen meine Werte noch mit den gelebten überein? Empfinde ich Erfüllung und bin glücklich oder empfinde ich eine nicht erfüllte Sehnsucht und bin traurig? Stelle ich mir Fragen wie z. B.: „Was habe ich mal gelernt/studiert und was tue ich heute?“ oder „Wie definiere ich heute mein Familienleben?“ oder „Wen oder was vermisse ich?“
Traurigkeit kennt kein Alter.
- Ein Kind hat vielleicht sein geliebtes Kuscheltier verloren und ist sehr traurig darüber,
- Ein Jugendlicher wird gemobbt oder hat seinen ersten Liebeskummer,
- Ein Erwachsener lebt in einem unerfüllten Kinderwunsch,
- Die kleine Schwester muss früher ins Bett als der Bruder,
- Der Azubi kann nicht übernommen werden,
- Der Fußballprofi erfährt eine Niederlage im Endspiel.
Die Aufzählung ließe sich weit fortführen.
Kommen wir wieder zurück zu Claudia S. mit ihrer Frage:
„Warum bin ich traurig?“
Bei Frau S. taucht diese Frage immer mal wieder in Abständen ihres Lebens auf. Sicherlich gibt es je nach Lebensumstände bzw. –phasen Antworten der unterschiedlichsten Ursachen. Mal ist es die Sinn-Suche, mal das Vermissen oder der Abschied/Trennung, oder es ist vielleicht auch mal nicht mehr oder weniger als einfach nur traurig zu sein. In unserem Fallbeispiel konnten wir gut erkennen, dass es „eigentlich“ keinen Grund zur Traurigkeit gibt, doch Claudia S. ist es manchmal. Vergessen bzw. unterschlagen wir an dieser Stelle bitte nicht, dass Claudia S. auch an vielen Wochen gut drauf ist, sie diese Zeiten doch nicht in Frage stellt sondern einfach nur lebt. Die Feststellung und Akzeptanz all dessen ist oft leichter, als gleich auf die Suche nach einer Diagnose zu gehen. Es gibt nicht immer eine Diagnose dahinter – aber – es gibt IMMER einen SINN! Lassen Sie jeden Teil von sich zu, lassen Sie jeden Teil von sich zu Wort kommen, wenn es wieder einmal heißt: „Warum bin ich traurig? Weil ich heute traurig bin.“ Nicht mehr und nicht weniger, einfach nur traurig und morgen bin ich wieder fröhlich, im Sinne des Liedermachers Herman van Veen mit seinem Stück: Alfred Jodokus Kwak – „Warum bin ich so fröhlich – ich war auch schon mal traurig…“
Ich wünsche Ihnen liebe Leserin und Leser eine wunderbare Zeit der Lebensfreude & Lebendigkeit mit allen Sinnen,
herzlichst Ihre Kerstin Kleber, die sich auch manchmal die Frage stellt: „Warum bin ich traurig?“